Brigitte unplugged: Grenzerfahrung Annapurna 100

"Freitag um 20 Uhr: Ich bin endlich in Zürich angekommen und erwische pünktlich meinen Flug über Muskat nach Kathmandu. Zwölf Stunden später treffe ich mich mit Karin am Flughafen von Kathmandu. Wir treffen auf unseren Fahrer und die Reise nach Pokhara beginnt. Die 2-stündige Fahrt durch Kathmandu zeigt, dass das Erdbeben seine Spuren hinterlassen hat. Der Schlaf im Auto stellt sich nicht ein, zu kriminell scheint uns die Fahrt, und immer wieder müssen wir uns vor Schreck aneinander festhalten. Der Zwischenhalt bei der Tankstelle und die Begegnung mit dem „mit-Henna-gefärbten-Ohren-Hund“ (siehe Foto) sind eine willkommene Pause. 

Um 23 Uhr wir erreichen Pokhara und werden freundlich vom Organisator des Rennens empfangen. Ich erhalte die Startnummer und eine nepalesische Simkarte für den Notfall, ausserdem installiere ich die GPS Tracker App in der Hoffnung, dass ich sie nie benutzen muss, was sich später als unwahr herausstellt. Um Mitternacht sind wir im Zimmer, packen alles für den Lauf. Zwei Stunden später geht der Wecker wieder und wir machen uns, natürlich ohne Frühstück, an den Start. Oh je, auch am Start gibt es kein Essen. 

Start ist kurz nach 4 Uhr. Ich laufe mit der Schweizerin Katja los und bin froh, dass wir zu zweit sind. Wir ergänzen uns gut, und den bellenden Hunden auf der Strasse gehen wir so gut es geht aus dem Weg. Bis Kilometer 20 läuft alles rund, wir haben einen guten Rhythmus. Dann merken wir, dass wir uns verirrt haben. Die Inderin, die sich uns angeschlossen hat, beginnt zu weinen und fürchtet sich, dass sie nie mehr nach Hause kommt. Wir versuchen sie zu beruhigen und fragen uns, wie sie die Nacht in den Bergen wohl verbringen wird, wenn sie schon im Tal weint. Katja und ich starten unser GPS und starten den Rückweg. Ich weiss nun, wie es funktioniert! 

Endlich kommt der erste Posten und es gibt Toast. Ich nehme mir vor, zwei Stück zu essen. Nach einem staubigen Bissen überlasse ich den Rest den Hunden. Das Klima ist gewöhnungsbedürftig: tropisch, heiss und feucht, und es wird zunehmend unerträglich. Ich habe Durst und bin froh um das Wasser, das eine Bauernfamilie bei einem selbst eingerichteten Posten anbietet. Das nicht abgekochte Wasser war wohl eher ein Fehler. Zu wenig essen und trinken, die Anstrengung und die raucherfüllte, stickige Luft führen zu Übelkeit und Erbrechen. Ich lasse meine Landfrau ziehen und drossle das Tempo.  Es geht nun einen steilen Berg hoch. Der Anstieg nimmt kein Ende. Mein Mut verlässt mich zum ersten Mal, das restliche Wasser in den Flaschen auch. Ich komme an Hütten vorbei. Die Kinder empfangen mich mit Blumen und strahlenden Augen, aber kein Wasser. Schlussendlich weiss ich, entweder ich trinke das Wasser aus dem Bach mit dem Risiko, unsauberes Wasser zu mir zu nehmen, oder ich nehme eine Dehydrierung in Kauf. Das erstere scheint mir sinnvoller, und ich tauche den ganzen Kopf in den Bach. Am liebsten würde ich so verweilen, aber ich weiss, dass ich weiter muss, um nicht zu lange in der Nacht laufen zu müssen. 

Die Übelkeit kommt zurück. Ich wünschte, es gäbe beim nächsten Check Point eine Cola. Es gibt Wasser in Cola-Flaschen abgefüllt und Nudel-Kohl-Suppe und Blumen von einem Mädchen. Die Blumen bauen mich auf, das fehlende Cola bringt mich fast zum Verzweifeln. Der Weg geht weiter und ich komme zu einem kleinen Dorf. Frauen und Kinder sitzen vor dem Haus. Auf dem Fenstersims steht eine 1.5 Liter Flasche Cola! Ich gehe zur einen Frau und erkläre ihr, dass ich diese Flasche kaufe. Ich habe einen 50 Dollarschein bei mir und würde ihn locker abgeben für dieses Goldstück namens Cola. Sie wollen kein Geld, nur viele Fotos machen von der komischen, Cola trinkenden Frau, die 1 Liter in 30 Sekunden leert. 

Nun geht es besser und ich merke, dass der Schwung zurückkommt. Ich laufe gut durch - bergauf, bergab an Dörfern vorbei und sehe einmal mehr, wie gut es uns in der Schweiz geht. Die Menschen leben mit ihren Tieren auf engstem Raum, und die Arbeit auf den Feldern ist hart, jeden Tag aufs Neue.  Um 17 Uhr folgt auf die Hitze ein heftiger Regenguss. Der Weg wird zu einem Bach. Punkt 18 Uhr wird es dunkel und ich aktiviere meine Stirnlampe. Die Orientierung wird nun noch schwieriger. Nun folgt der grösste Aufstieg in einem Urwald. Ich überlege, welche Tiere ich hier wohl antreffen könnte und ob mir wohl Menschen begegnen werden. Nach drei Stunden ist es mir egal und ich lasse meinen iPod an. 

1 Stunde später, immer noch im endlosen Wald, holen mich zwei Lichter ein. Es sind zwei Personen von der Organisation. Sie erklären mir, dass sie nun hinter mir gehen, da lange keine Läufer mehr hinter mir kommen werden, und ich somit zu alleine wäre. Ich bin erleichtert und frage sie, wie lange sich dieser verfluchte Wald noch dahinziehen wird. 1 Stunde - das scheint machbar zu sein. Pünktlich um 20.10 Uhr frage ich nach, ob wir nun den Gipfel erreicht haben. Nein, noch drei Viertel Stunden. Ich muss mich zusammenreissen, dass ich mich nicht ärgere, und setze mich auf einen Stein. Alle Kraft verschwindet plötzlich aus mir. Der eine Mann hat Mitleid und nimmt einen Beutel mit gekochtem Reis hervor. Er gibt mir zwei Hände voll, und ich bin froh um die erste schlaue Verpflegung seit 16 Stunden. Der Reis wirkt Wunder und meine Beine schlagen sich wieder tapfer den treppenähnlichen Urwaldweg hoch. 

Nach 1 Stunde erreichen wir den zweitletzten Check Point. Ein paar Cola-Flaschen gefüllt mit gelblich gefärbtem Wasser: spezielle Elektrolyten, erklärt mir der Mann am CP. Es schmeckt grässlich. Nun wird es richtig kalt und ich laufe freiwillig weiter. Endlich habe ich drei Läufer eingeholt. Mit dem Spanier laufe ich schlussendlich dem letzten Check Point entgegen. Seine Stirnlampe und sein Handy haben den Geist aufgegeben, und er muss nun mit mir laufen. Ich bin froh, denn er scheint mit der Orientierung leichter zurechtzukommen als ich. Obwohl: Dreimal erklärt er mir, dass wir in 500 Meter im Ziel sind, setzt zum Endspurt an und muss dann feststellen, es geht noch weiter. Nach 4 Kilometer erreichen wir das Ziel tatsächlich! 

23 Stunden hat mich dieser Lauf durch Höhen und Tiefen geführt: die Freundlichkeit der Bergbewohner war Gold wert, die Orientierung sehr schwierig, Essen und Trinken eine Herausforderung, das Alleinsein über mehrere Stunden bei Nacht im Dschungel eine Grenzerfahrung. Doch der Gedanke auf die folgenden Tage mit Kinderbesuchen hat mich angespornt."