Nun sitze ich am Flughafen in Manchester und die vielen Menschen sind nach der langen Zeit in der Natur etwas gewöhnungsbedürftig. Nach der Rangverkündigung gestern sind nun alle mit dem Car zurück in den Norden gefahren. An der Raststätte gab es endlich wieder Früchte, Chips, Bier, Schoggi, Sandwiches und ich glaube, dass ich noch nie so gierig in einem Laden nach diesen Dingen gegriffen habe.
Tag 1
Nach dem gestrigen Race Briefing laufe ich etwas unsicher los: Die vielen Routenänderungen sind im schönen, aber für mich nicht verständlichen Waleser Dialekt direkt vom einen Ohr zum anderen Ohr geflossen. Mitbekommen, aber ignoriert habe ich die Instruktion zum SOS-Button auf dem GPS. Er soll nur im äussersten Notfall gedrückt werden. Ein verdrehtes Knie oder ein verstauchter Fuss reichen nicht. Schliesslich sei dies ein hartes Rennen und die Teilnehmer müssen selber zurechtkommen. Na ja, ich beschliesse, den Button auch bei einem verstauchten Fuss zu drücken.
Die ersten Kilometer laufen gut. Es hat viele Läufer und ich finde die Checkpoints (rote Fähnchen mit Gerät zum Registrieren, dass ich da war) problemlos. Ich denke «Wow, das ist ja easy...». Ich rechne mit 12 Stunden.
Um 4 Uhr Nachmittags erreiche ich die höheren Berge. Nebel und Wind kommen auf und ich merke, dass ich nun jemanden suchen muss, an den ich mich anhängen kann. Ab und zu erscheint jemand aus dem Nebel, aber die Männer sind zu schnell und ich kann das Tempo nicht mithalten. Das GPS muss mir nun helfen, aber ich merke, dass ich auf diesem weglosen Geröll nicht laufen und gleichzeitig auf das GPS schauen kann. Ausserdem habe ich jede Orientierung verloren. Ich verlaufe mich und bekomme bei diesem bissigen Wind, der Kälte und dem Nebel ein etwas fahles Gefühl.
Dann sehe ich von weitem zwei Männer und ich haste in deren Richtung. Ich weiss, da muss ich bleiben. Die Zwei sind nicht allzu schlecht mit ihrem Kompass unterwegs. Wir laufen zusammen, respektive ich versuche dranzubleiben und den Schotten in ein Gespräch zu verwickeln, damit er langsamer läuft. Con redet und redet und ich verstehe nix. Meine Lungen gewöhnen sich nur langsam an das Tempo, aber ich weiss, dass dieses Tempo das kleinere Übel ist, als irgendwo in Nebel und Kälte verloren zu gehen. Verloren zu gehen mit Karte, Kompass und GPS scheint für viele unmöglich zu sein, für mich ist es leider Realität.
Nach zwei Stunden verletzt sich Con am Knie und ich bin (ojeeee mein Karma) froh - er drosselt das Tempo. Es geht über Felsen, steile Abhänge und ich frage mich, ob ich an einem Kletter-Contest bin. Auf jeden Fall bin ich hier falsch 😂.
Nach 13 Stunden erreichen wir endlich das Ziel. Beim Finisher-Zelt schüttelt der Organisator den Kopf - ich habe einen Checkpoint verfehlt! Ich breche erschöpft in Tränen aus, weil ich weiss, dass das heisst: das Rennen ist aus. Sie checken meinen Tracker und stellen fest, dass ich tatsächlich da war und den Stab wohl nicht richtig ins Gerät gesteckt habe. Es kann also weiter gehen. Ich esse kurz das vegetarische Menü, Reis mit Erbsen (igitt) und sinke in den warmen Schlafsack.
Tag 2
Die Nacht war kurz und der Schlaf hat sich kaum eingestellt. Der Körper ist zu müde und die Beine zu schwer. Um 4 Uhr geht der Wecker. Es muss gepackt werden für den Tag. Genug Essen, 3 Liter Wasser, Pflichtmaterial wie Regenjacke und Hose, langes Shirt, Karte Kompass, Mütze, Handschuhe, Stirnlampe ... mein Rucksack wiegt ca. 5 kg.
Um 6 Uhr laufe ich los. Ziemlich schnell treffe ich auf Paul, einen jungen Marine. Er scheint noch verlorener als ich im Nebel, aber wir beschliessen, zusammen zu bleiben und uns einen fähigen Mann zu suchen, dem wir folgen können.
Paul hat erst einen Strassenmarathon in seinem Leben gelaufen. Ich bin etwas erstaunt, dass er sich in diesem Geröll, wo man einen Schritt vorwärts kommt und zwei rückwärts geht, so gut schlägt. Er jammert nicht und flickt meinen Stock souverän mit Tape, als der Griff abfällt, da der Rest im Sumpf stecken bleibt. Marines, das sind eben noch echte Männer 😉
Wir bemerken eine Frau, in lila Shirt, welche einen souveränen Kartenleseeindruck macht. Es ist Linda und wir stellen fest, dass wir das Zelt zusammen teilen. Linda führt uns von Checkpoint zu Checkpoint. Sie ist eine ruhige, aber direkte schottische Lady, die nie flucht oder jammert. Sie mag das Gras und Moor. Ich stapfe hinter ihr her. Später schliesst sich uns Katharine an. Sie möchte auch nicht alleine laufen. Das letzte Dragon’s Back Race musste sie nach Tag 2 aufgeben. Nun will sie sicherer laufen. Wir vier bleiben zusammen.
Es läuft mit ein paar Verirrungen recht gut. Man verliert sofort eine Stunde, wenn man sich verirrt. Paul kommt an seine Grenzen, er möchte kurz ins Gras liegen. Ich weiss, dass das ein Fehler ist. Die Zeit lässt es nicht zu. Die Checkpoints müssen in einer bestimmten Zeit erreicht sein, und es handelt sich leider nicht um einen gemütlichen Spaziergang, sondern um Stress, den Checkpoint zu finden, einen guten Weg durch Heidelbeeren, Disteln, Geröll, Felsen, Moore und Grasflächen zu finden und die müden Augen offen zu halten.
Paul, den Marine, sehen wir nicht wieder. Er ist wohl eingeschlafen und musste dann abbrechen. Wir sind nun zu dritt. Katharine, Linda und ich kämpfen uns durch. Wir verfehlen viele Routen und nehmen wohl nie genommene Wege. Katharine ist gut in den Felsen, Linda stark im Gras und im Kartenlesen, ich übernehme den Lead auf Trampelpfaden bergauf. Jeder hat seine Rolle.
Wir schaffen das Ziel und beschliessen, Tag 3 zusammen zu laufen. Wieder vegetarisches Essen - waren es Kichererbsen? Dann ab in den warmen Schlafsack. Schlaf ca. 3 Stunden. Der Körper schmerzt zu sehr.
Tag 3
Ein neuer Tag. Er beginnt harzig. Ich fühle mich krank, bin erkältet und habe nicht richtig gegessen. Linda übernimmt den Lead. Sie läuft konstant, ermahnt mich zum Essen. Die Kuchen und Riegel sind mir schon ein Greuel. Ich versuche sie herunterzuzwängen.
Linda ist eine fürsorgliche Frau, aber drängt uns zum Laufen. Wir haben 1 Stunde mit einem Orientierungsfehler verloren. Katharine und Linda studieren die Karte, ich verfalle in einen Sekundenschlaf im Stehen. Nun müssen wir die Zeit aufholen, sonst reicht es nicht zum Checkpoint.
Es wird warm und Katharine und ich haben beide eine tiefe Krise. Ich habe das Gefühl, nichts mehr aus meinen Beinen herausholen zu können. Katherine weint still vor sich hin. Wir sagen Linda, dass sie weiter soll, damit sie es wenigstens schafft und Katharine und ich wollen langsamer laufen. Dann denk ich mir: Wenn wir es nicht schaffen bis zum nächsten Checkpoint, war alles für nichts. Ich sage Katharine, dass wir nun versuchen müssen, uns zusammen zu nehmen und Tempo zu machen. Ich spüle ein Brownie herunter und Katharine einen Gel, dann laufen wir. Wir holen Linda ein und erreichen den Checkpoint, 30 Minuten vor Schliessung. Das war knapp. Der Organisator scheint nur schnelle und gut orientierte Läufer in seinem Rennen haben zu wollen. Die Zeit ist knapp und erlaubt keinen Halt.
Nach diesem Höheflug - wir wissen, wir sind noch im Rennen - fliegen wir drei nach 14 Stunden Moor, Matsch, Heidelbeerstauden, Felsen und Disteln trotz einem kurzfristig ausgerenkten Finger von Kathrine regelrecht ins Ziel und beschliessen, nun alle Tage zusammen zu meistern.
Abendessen: Couscous mit Süsskartoffeln, hmmm. Schlaf ca. 3 Stunden.
Tag 4
Ich entschliesse mich, mal ordentlich zu Frühstücken. Tag 4 soll auch hart werden. Sicher 13 Stunden. Ich esse drei Eier und zwei Schalen Cornflakes. Das zahlt sich aus. Nach einem fatalen Orientierungsfehler müssen wir die Stunde wieder aufholen. Dank den Eiern fühle ich mich plötzlich auf einem langen Kiesweg kräftig.
Ich erlebe einen Höhenflug und kann uns gut zum nächsten Checkpoint ziehen. Linda will am nächsten Tag auch Eier essen. Auch im Moor kommen wir gut voran. Als ich bis zur Hüfte in einem Loch versinke und mich Katharine herausziehen muss, bemerkt Linda nur trocken: «Welcome to Great Britain, Bridget!!»
Wir laufen schnell. Vielleicht zu schnell, denn am Nachmittag schlägt die Krise bei mir ein wie eine Bombe. Es ist heiss. Heiss in Wales? Das Wasser geht uns aus. Ich fühle mich am Ende der Kräfte und lasse mich von Katharine den Berg hochziehen. Das süsse Zeugs kann ich kaum mehr sehen. Man muss essen und trinken, aber man darf auch nicht zu viel essen, der Körper erträgt das nicht. Endlich ein Bach. Ich stelle meine heissen Füsse mitsammt Schuhen in den Bach. Das hilft. Kurz auf jeden Fall. Für die Blasenbildung ist es weniger gut. Aber man lebt und denkt im Moment.
Ich versuche, die Stunden durchzubringen, in dem ich mir vorstelle, was ich nun an einem Donnerstag machen würde. Das macht es besser. Ich beneide die Fotographen im Grass, beneide den Briefträger, der seinen Arbeitstag durch hat und nach Hause gehen kann. Ich kann erst ca. um 21h zu Hause im Zelt sein. Vom vielen Schneuzen bekomme ich Nasenbluten, und es stellt sich heraus, dass Linda Krankenschwester und Katharine Ärztin ist. 5 Minuten auf die Nase drücken, dann geht es weiter. Später hat Katharine ein Zittern in den Beinen. Wir halten kurz und sie isst.
Die Teerstrasse zum Zelt scheint nicht enden zu wollen. Ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Katharine singt vor sich hin, Linda bleibt cool. Wir kommen bei noch brütender Hitze um 20:30 Uhr im Ziel an. Meine Tränen wollen nicht stoppen. Dann wieder Reis, diesmal mit Broccoli, hmmmm.
Es ist die erste Nacht, in der ich schlafen kann. 4 Stunden vielleicht. Ich weiss, nun müssen wir den letzten Tag packen. Kein Verirren und keinen Zwischenfall.
Tag 5
Frühstück: heute vier Eier und Cornflakes. Linda würgt auch Eier hinunter. Ich muss lachen. Katharine weint. Sie ist am Ende mit den Nerven. Ich spreche ihr gut zu, muss aber selber meine Tränen unterdrücken. Alles ist auf dünnem Eis. Der Schlaf fehlt. Der Körper mag nicht mehr richtig.
Wir laufen los - wie immer um 6:00 Uhr. Um 9:00 Uhr erreichen wir ein Dorf und stürmen den Dorfladen. Es gibt Cola!!! Katharine trinkt zu schnell und muss erbrechen. Wir drosseln das Tempo. Aber weiter muss es gehen. Ein Kartenlesefehler und wir schaffen es nicht pünktlich ins Ziel.
Wieder ein enorm heisser Tag. Am Ziel sagt mir ein Waleser, dass es noch nie so heiss und schön war in Wales an drei Tagen hintereinander. Ich bin dankbar - wem auch immer ich dieses Wetterwunder verdanke. Linda leidet. In Schottland sei es immer schön regnerisch. Sie wird das erste Mal etwas mufflig. Die Blasen an den Füssen tun ihr weh. Meine Füsse? Die sind durch ein Wunder nur extrem angeschwollen und zwei Nägel fallen ab. Blasen habe ich keine. Ich will nur laufen und endlich im Ziel sein. Linda ermahnt mich an den täglichen Hammer: Bridget, you will burst us!
Sie hat recht. Es geht noch mindestens einen Arbeitstag. Ich picke mir den Montag heraus als Orientierungstag. Da ist im normalen Leben Arbeit angesagt am Morgen, am Nachmittag Massage und dann gehen Hannah und ich Schwimmen. Die Zeit will und will nicht vergehen. Die Hügel nehmen kein Ende und hinter dem einen erscheint wieder ein anderer. Linda und Katharina laufen nun auch mit dem Gedanken, etwas Gutes für Nepal zu tun, wenn sie mich ins Ziel bringen.
Dann sind es noch 6 km. Linda will nur noch Marschieren. Ich laufe und warte stets an den Bächen mit dem ganzen Schuh im Wasser. Dann hören wir das Ziel und laufen. Wir laufen voller Glück und spüren nur noch Erleichterung ... Well done, Katharine and Linda. You are both wonderful, and it was a present meeting you!
Es war ein Rennen, so hart wie ich es noch nie erlebt habe. 13-Stunden-Tage ohne Pause, 3-4 Stunden Schlaf pro Nacht, wenig essen und trinken, Stress, die Posten zu finden, nicht rechtzeitig beim Checkpoint zu sein, müde Beine, geschundene Zehen, extrem rauhes Klima, grauenhaftes Gelände. Das Krafttraining hat sich gelohnt. Das Gerüst war stabil und die Muskeln stark genug.
Fazit: Orientierungslauf ist nix für mich. Aber es war eine Erfahrung wert und jeder Kilometer hat sich für die Kinder in Matri Griha gelohnt. Das Wetter war ein Segen, und ohne die beiden strong Ladies würde ich noch heute irgendwo in Wales herumirren ...
Vielen Dank an:
- alle Spender, die mich und somit Nepals Kinder unterstützen
Hannah und Materli, für das Halten der Stellung zu Hause. Ihr seit die Besten und immer in meinem Herzen mitgelaufen
Werner, Susanne und little Sean, die zu Hause die Stellung am Compi gehalten haben
Ueli, fürs gute Betreuen meiner Hunde - eine Frau wollte mir unterwegs einen ihrer geretteten Greyhounds anhängen - ich hab dankend abgelehnt 😉
Sandra (Boss) für die Riesenunterstützung durchs Jahr hindurch und an den Rennen
Daniela für die fantastischen Behandlungen meines Gerüsts und das Betreuen meiner Tiere
Ueli für das Ausmerzen meiner Wehwehchen
Gusteli für das Extratraining
Allen, die mir so liebe Nachrichten ins Zelt geschickt haben oder mich sonst unterstützt haben
- Corinne und Gereon von ChanceSwiss, die uns das Spenden möglich machen