55 Stunden und 40 Minuten unterwegs - der Erlebnisbericht von Brigitte

Brigitte nimmt euch mit auf den Lauf, der von körperlichen und psychischen Höhen und Tiefen geprägt war und dessen Ziel nicht in Davos, sondern in Nepal bei Abin Gurung liegt.

«Letztes Jahr, als ich meine ersten 100 Kilometer gelaufen bin, wusste ich bald: Es könnten noch mehr sein. Dieses Ziel zu erreichen, hat mich ein Jahr lang begleitet, ebenso die Angst vor dem grossen Tag, Respekt vor der Natur und dem eigenen Körper.

Dann fällt der Startschuss: Für mehr als 55 Stunden habe ich mich auf den Weg in die Berge gemacht - ein körperlich und geistig steiniger Weg mit riesigen Höhen und Tiefen. Die Strategie war, Etappe um Etappe zu absolvieren und Karin, meine super Betreuerin, zu erreichen, 2 mal 40 Minuten zu schlafen, viel zu essen (nur natürliche Produkte wegen Magenverträglichkeit), gut zu trinken, geduldig zu sein und in Krisen die Nerven nicht zu verlieren.

«Für mehr als 55 Stunden habe ich mich auf den Weg in die Berge gemacht - ein körperlich und geistig steiniger Weg mit riesigen Höhen und Tiefen.»
 

Tag 1 - Glück und Frieden
Es ist heiss - für mich gute Bedingungen. Karin zwingt mich zum essen und trinken, Etappe um Etappe. Es läuft easy. Der Abend bricht an, Murmeltiere kommen aus ihren Höhlen, Einsamkeit, die Geräusche der Natur - reines Glück und Frieden macht sich im Körper breit. 

Nacht 1 - kurzer Besuch im Traumland
Wie erwartet hart - das Laufen mit Stirnlampe macht mir Mühe, trotz Scheinwerferlicht. Übelkeit überfällt mich. Dafür bleibt kein Platz für Müdigkeit. Mein Ziel war, bis 5 Uhr morgens zu laufen und dann endlich zu schlafen. 

Zum Glück kann ich mich nach längerem alleine Laufen für ca. 2 Stunden Martin Hochuli anhängen - Ablenkung ist das Beste! Danke Martin! Um 5 Uhr erreiche ich Karin - sie empfängt mich voller Freude, das tut gut. Sie verpflegt mich, organisiert mir eine Liege und lässt mich 40 Minuten schlafen. 1 Minute in Querlage falle ich ins Traumland. Karin weckt mich und ich könnte sie verfluchen dafür ;-) Sie bringt Kaffee, trichtert mir ein, wieviele Steigungen ich überwinden muss, lädt meine psychischen und physischen Akkus auf und schickt mich weiter. Ich gehorche. 

«1 Minute in Querlage falle ich ins Traumland. Karin weckt mich und ich könnte sie verfluchen dafür ;-)»
 

Tag 2 - Höhen und Tiefen
Ich nehme die nächste Steigung in Angriff. Steigungen liegen mir, der Körper kommt in Fahrt, Frieden und Ruhe breitet sich aus. Ich geniesse die Einsamkeit - weit und breit kein Läufer. Die Landschaft ist wunderschön, erinnert mich an unsere Familienwanderungen als Kind in Mürren. Ich bin glücklich, die Batterien sind aufgefüllt und ich weiss: Nur noch den Tag überstehen und noch eine einzige Nacht! Karin wartet in Bivio. Ich freue mich wahnsinnig, sie zu sehen. Sie ist die Ruhe selbst, strahlt seit Donnerstag morgen, scheint wach und liest mir jeden Wunsch von den Augen ab: Zahnpaste und Früchte! Merci Hubelti!! Sie trichtert mir die obligate Hügelkarte ein: Zwei Berge, dann langer Abstieg. Gewitter möglich.

«Steigungen liegen mir, der Körper kommt in Fahrt, Frieden und Ruhe breitet sich aus.»
 

Steine und Unwetter
Ich laufe mit Dominiek los. Ich übernehme den Lead bergauf - er ist stärker bergab und ich bin froh, mich bergab auf seine roten Schuhe konzentrieren zu können, statt auf meine schmerzenden Füsse. Ich habe die Steine aus den Schuhen entfernt, habe aber das Gefühl, dass sie immer noch im Schuh sind. Das Gewitter kommt. Wir sind auf dem 1. Gipfel - Dominiek und ich sitzen hinter einen Stein - das Gewitter zieht vorbei, der Regen und die Kälte bleiben. Ich möchte am liebsten beim Stein sitzenbleiben, weiss aber, es ist zu kalt und nass. Wir laufen weiter. Endlich erreichen wir den zweiten Berg. Ich habe mein erstes Riesentief. Ich merke, dass ich nicht hinunterrennen kann wegen den Füssen. Ich lasse Dominiek ziehen. Seine rote Jacke wird immer kleiner und kleiner, und dann bin ich alleine ...

«Ich habe die Steine aus den Schuhen entfernt, habe aber das Gefühl, dass sie immer noch im Schuh sind.»
 

Die grosse Krise
Schmerzen, Kälte, nass bis auf die Haut. Ich beschliesse, meine Wärmedecke um mich zu wickeln und langsam herunterzugehen. Jeder Schritt schmerzt, ich fluche, niemand weit und breit. Ich sehe meinen verstorbenen Hund vor mir - er läuft und läuft und zieht mich weiter und weiter. Das Hirn läuft auf Sparflamme - die Energie geht direkt in die Beine. Wie immer ist der nächste Posten nicht am Anfang des Dorfes, sondern am Ende und ich muss mich zusammennehmen, dass ich die Nerven bewahre und die Tränen herunterschlucke.

«Jeder Schritt schmerzt, ich fluche, niemand weit und breit.»
 

Im Dorf der besten Samariter
Dann steht sie da: Karin - den Menschen, den ich am liebsten sehen wollte! Und meine Schwester Susanne! Juhuuu! Savonin heisst das Dorf - das Dorf der besten Samariter und Ärzte! Ich muss die Schuhe wechseln - sie sind nass - ich ziehe die Socken aus - Roland schaut meine Füsse an und merkt sich meine Startnummer - er wettet, dass ich nicht ins Ziel komme - ich denke: Dir zeig ich's ;-). Die Sanitäterinnen sind super - sie föhnen meine Füsse, nehmen Hautfetzen weg, tapen, polstern die entzündeten Stellen und lassen die Steine unter der Haut bleiben - mit offener Fusssohle könnte ich nicht gehen. Ich verspreche ihnen, am Sonntag zum Arzt zu gehen und verlasse den heimeligen Posten nach zwei Teller Pasta. 

«Er wettet, dass ich nicht ins Ziel komme - ich denke: Dir zeig ich’s ;-)»
 

Nacht 2 - Halluzinationen und wieder Kartoffeln
Der Aufstieg ist friedlich - ich finde die Ruhe und den Frieden, ich weiss, es kommt gut - nur noch eine Nacht. Ich beschliesse, die Nacht mit Dominiek durchzulaufen. Ich übernehme den Lead berhoch, er bergab. Wir laufen wie ein Team, das seit Jahren zusammen läuft. Die kleinen Krisen eines jeden können vom anderen abgefangen werden. Wir reden, lachen und halluzinieren. Mal sieht man einen Helfer, wo keiner ist, Ziegen oder Roboter ... wir sind übermüdet. Es läuft gut - wir sind schneller als geplant in Lenzerheide. Uns geht's gut. Endlich der zweite geplante Schlaf: 40 Minuten. Dann Kaffee, Kartoffeln und weiter.

«Wir reden, lachen und halluzinieren. Mal sieht man einen Helfer, wo keiner ist, Ziegen oder Roboter ... wir sind übermüdet.»


The horse
Ich laufe weiter mit Dominiek. Weit und breit kein anderer Läufer. Mir wird übel wegen des Schweinwerferlichts. Dann kommt langsam die Sonne hervor - wir überwinden Berg um Berg. Ich komme in Fahrt - fühle mich gut und zuversichtlich. Wir treffen einen Läufer, den wir "Horse" nennen. Er schnaubt wie ein Pferd und hat einen polterigen Gang. Er verwechselt Arosa mit Davos - meint, das Weisshorn wäre Arosa. Ojeee ...

Dann kommt langsam die Sonne hervor - wir überwinden Berg um Berg. Ich komme in Fahrt - fühle mich gut und zuversichtlich.
 

Tag 3 - Endspurt am Limit
Ich weiss, der Lauf ist bald durch. Arosa: Karin, meine allerbeste Karin!!! Früchte, Halstabletten, Pasta - Instruktion: 2 Steigungen. Wir gehen los. Letzte Etappe - easy also. Ich beschleunige - es sind ja nur 10 Kilometer. Ich treibe Dominiek an - er hat Schmerzen. Es kommt anders: Wir meinen, die Steigungen hinter uns gebracht zu haben - dem ist nicht so - sie kommt erst, die riesige Steigung! Ich verliere die Nerven - Läufer, die kürzere Läufe absolvieren, überholen uns mit hohem Tempo. Ich fühle mich träge, langsam, weine, fluche. Die Füsse schmerzen grauenhaft. Dominiek bleibt ruhig - er reisst mich den Berg hoch.

«Ich fühle mich träge, langsam, weine, fluche. Die Füsse schmerzen grauenhaft. Dominiek bleibt ruhig - er reisst mich den Berg hoch.»
 

Wespenschwarm
Ich sehe endlich Davos - muss weinen und weiss, es geht nun 1,5 Stunden in den Abstieg. Läufer preschen an uns vorbei. Ich könnte jeden anschreien. Die Nerven sind blank. So lange läuft man friedlich in Einklang mit der Natur, und plötzlich fühlt man sich wie in einem Wespenschwarm. Ich war nicht darauf vorbereitet. Endlich: 1 Kilometer vor dem Ziel! Wir beschleunigen, ich schreie vor Glück, Anspannung und Müdigkeit! Die rote Matte, Karin, Susanne, Werner ... ein Sandwich, Cola, liebe Zuschauer ... 

«Endlich: 1 Kilometer vor dem Ziel! Wir beschleunigen, ich schreie vor Glück, Anspannung und Müdigkeit!»

Der Tag danach
Ich war beim Bergdoktor. Der Stein ist herausoperiert, die Zehen sind verarztet und verbunden. Es war ein unglaubliches Abenteuer. Ohne Karin hätte ich es nicht geschafft, sie hat nur doppelt so viel geschlafen wie ich - der mentale Etappenplan war super. 

Die lieben Wünsche über Facebook von Freunden und Bekannten haben mich angespornt, mir Mut gegeben und die Kraft, vorwärts zu gehen. Ihr seit alle fantastisch!!! Danke von Herzen!

 Susanne und Werner an diversen Posten und am Ziel waren Gold wert - es geht nichts über Schwesterliebe! Die Samariterinnen verdienen grosses Lob - übrigens auch vom Bergdoktor ;-)».

«Wir haben als Team Riesiges geleistet - Abin wird es uns danken!»
— Brigitte Daxelhoffer